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„Das ist eine Lebenselixier-Erfahrung“

Wie werd’ ich wohnen, wenn ich älter bin? Henning Scherf, früherer Bürgermeister von Bremen, hat sich längst eine Antwort auf diese Frage gegeben. In Bayreuth wirbt er für sein Modell einer Gemeinschaft, die zusammen durch dick und dünn geht.

Er ist das Gesicht in Deutschland zum Thema Senioren-Wohngemeinschaft: Henning Scherf, früherer Bürgermeister von Bremen, lebt seit mehr als 30 Jahren in einer Hausgemeinschaft in der Hansestadt mit Freunden zusammen in einem Haus. Viele Bücher und unzählige Vorträge hat er zu diesem Thema schon gehalten, auch schon in Bayreuth. Bei der Veranstaltung Wohnen & Quartier am Donnerstag im Zentrum wird der 83-Jährige über seine Erfahrungen mit dem „Älter werden in Gemeinschaft“ reden. Mit dem Kurier sprach er vorab über den längsten Urlaub seines Lebens, eine unverhoffte Liebe und die Zutaten, die ein erfolgreiches Zusammenleben braucht. 

Herr Scherf, wie haben Sie und Ihre Haus- und Altersgenossen in Bremen Corona überstanden?

Wir sind nicht alles alte Leute. Acht von uns sind etwa in meinem Alter. Auch ein junges Paar mit einem Kleinkind lebt bei uns. Wir haben uns sehr geschützt, waren umsichtig, testen uns wenn nötig und sind vierfach geimpft. So bekam keiner von uns Corona.

Aber Sie konnten nicht mehr Vortragsreisen unternehmen. Sie haben mal gesagt, das ist Ihr Lebenselexier. Was haben Sie die ganze Zeit daheim gemacht?

Es war die längste Urlaubszeit meines Lebens. Ich hatte Zeit zuhause zum Lesen, Schreiben, Musizieren, Kochen, Einkaufen und zum Bügeln. Über Häuslichkeit habe ich in meinen Büchern immer geschrieben und in meinen Vorträgen geredet, aber ich habe sie nicht gelebt. In den vergangenen zweieinhalb Jahren habe ich alles nachgeholt – und daran hatte ich große Freude. Im gegenseitigen Helfen und aufeinander Achten kamen wir uns alle sehr nahe. Die Kinder und Enkel, die woanders leben, haben bei ihren Besuchen immer gestaunt. Mit meiner 22-jährigen Enkeltochter, die Psychologie studiert, schreibe ich nun ein Dialogbuch, was wir voneinander gelernt haben, auch in der Pandemiezeit. Aber ich genieße es auch, wieder auf Vortragsreisen zu gehen. Gerade komme ich verzaubert durch die Begegnungen mit Menschen von einer Reise aus Württemberg zurück. 

Sind Sie ihren Hausgenossen auf die Nerven gegangen?

Nein, die achten sehr darauf, ob ich das noch alles leisten kann. Und sie wundern sich über meine Begabung, mich zu mobilisieren. Die Psychologen nennen es Resilienz, wenn man bei Herausforderungen und Stress Widerstandskraft und psychische Kräfte entwickelt. Das ist im Alter besonders wichtig.

Nun klappt es wieder mit den Vorträgen und sie sprechen in Bayreuth erneut über Älterwerden in der Gemeinschaft. Warum liegt Ihnen dieses Thema schon so lange am Herzen?

Weil es mich im Kern betrifft. Ich rede von meiner eigenen Lebenssituation. Ich habe wohl in meinen Politikerjahren angefangen, über mein eigenes Leben zu sprechen und mir dadurch selber Klarheit zu verschaffen. Jetzt ist Reden übers Altwerden und darüber, wie andere das machen, von existenzieller Bedeutung für mich. Ich versuche mir Klarheit zu verschaffen über mein Leben: Ist das eine Chance oder ist das das Ende? Ich habe immer wieder Anlass, optimistisch in die Zukunft zu schauen. Es ist immer noch spannend, älter zu werden.

Hat sich ihre Botschaft im Laufe der Jahre verändert?

Wenn man mit Freunden zusammenlebt, passiert ganz viel. Wir haben schon mehrfach Sterbebegleitung gemacht, alle, Tag und Nacht. Wir entwickeln uns. Wenn es einmal gelungen ist, zu einer Gemeinschaft zusammenzufinden, muss es nicht für immer gelungen sein. Unsere Kinder und Enkel nehmen lebhaft Anteil. All das ist eine Lebenselexier-Erfahrung. Ich brauche keine Psychopharmaka und kein Besäufnis, ich brauche Menschen um mich, die mir zugetan sind, die was zu erzählen haben, die was unternehmen wollen und zu denen ich Vertrauen habe. Je älter ich werden, desto wichtiger wird das. Ich bin nicht ehrgeizig, will die Jungen nicht belehren wie manche meiner Altersgenossen. Besserwisser finde ich unerträglich. Wir müssen auch im Alter lernfähig sein und uns für neue Situationen und Erfahrungen öffnen.-Wir dürfen die Jungen nicht Vorhaltungen machen, sondern müssen sie verstehen.

Ist das das Rezept, das eine Hausgemeinschaft braucht, um so lange (33 Jahre) zu bestehen wie Ihre?

Ja, und man muss Glück haben: Freunde gefunden zu haben und sich nicht auf die Nerven zu gehen, auch bei schwierigen Situationen wie Krankheit und Tod beeinander bleiben. Auch das Umfeld, Kinder und Geschwister, müssen einbezogen werden, damit man das Gefühl bekommt: Wir sind nicht allein und übrig geblieben.

Ist das Leben in der Hausgemeinschaft heute noch so wie am Anfang vor 30 Jahren?

Es hat sich sehr geändert. Ich lebe jetzt die Hausgemeinschaft und merke, wie gut mir das tut. Folgende Geschichte dazu: Ein um seine Frau trauernder Pastor, der bei uns eingezogen ist, hat die beiden jungen Leute, die bei uns wohnen, auf ihren Wunsch getraut. Bei der Hochzeit setzte das Brautpaar den Pastor neben ihre ebenfalls verwitwete Tante. Und prompt funkte es zwischen beiden. Sie überwanden die Trauer und blühten auf. Der Mann ist 84 Jahre – und das ganze Haus freut sich mit ihm. Dass bei uns im Haus ein Kind geboren wird, damit hatte auch niemand gerechnet. Es passiert immer was, und man muss sich darauf einlassen. So erlebt man auch im Alter Geschichten, die man vorher nicht für möglich gehalten hätte.

Sie bekommen bestimmt auch viele Rückmeldungen von anderen Hausgemeinschaften. Es klappt nicht überall so gut wie bei Ihnen, oder?

Von den etwa 40.000 Hausgemeinschaften, die es in Deutschland gibt, haben nach meiner groben Schätzung vielleicht zehn Prozent Probleme. Durch Streit oder Demenzerkrankungen kann so etwas passieren. Die Scheidungsrate ist aber viel höher. Die große Mehrheit in den Hausgemeinschaften hat viel Freude, höre ich aus den Rückmeldungen.

Die Immobilienpreise explodieren. WG im eigenen Haus ist immer mehr nur was für wohlhabende Menschen, oder?

Nein. Unser Manfred hat eine Rente von 641 Euro und kommt gut klar. Wir haben keine Klassengesellschaft, sondern sind solidarisch. Das kann man sich auch leisten, wenn ein Typ wie ich mit guter Pension dabei ist. Abgeben, anderen helfen, macht glücklich. Es wohnten auch schon Studenten und Flüchtlinge bei uns, die kein Geld hatten.

Wenn sie heute eine Senioren-WG gründen wollten: Was würden Sie anders machen?

Ich würde lieber ein größeres Haus kaufen, in dem mehr Platz für alle ist, besonders für junge Familien. Halbe-halbe für Jung und Alt wäre besser, dafür bräuchte man aber mehr Platz. Mehr als elf Personen passen bei uns nicht rein. Wir haben vier Jahre lang gesucht und dann dieses 200 Jahre alte Haus ausgewählt, in dem wir jetzt wohnen.

Joachim Fuchsberger hat einmal gesagt, alt werden ist nichts für Feiglinge. Sie wollen 100 werden, haben Sie kürzlich geäußert. Sind sie demnach besonders mutig?

 Ich kann mit diesem Begriff nichts anfangen. Altwerden ist für mich keine Frage von Mut oder Feigheit. Ich bin ein Glückspilz, weil ich mit den richtigen Leuten zusammen bin und 62 Jahre mit der Frau zusammenlebe, die schon mit 17 meine Sehnsucht war. Es hat auch damit zu tun, dass man sich Mühe gegeben hat, dass das alles hält. In Beziehungen muss man investieren. Das Glück kommt nicht von allein. Glücklich alt werden hat nichts mit Mut zu tun, sondern mit Empathie.

Das Gespräch führte Peter Rauscher – Nordbayerischer Kurier